Seit einigen Monaten sieht man in Berlin Häuserwände, die mit überdimensional großen, alten Gesichtern tapeziert sind. Die schwarz-weißen Plakate erregen Aufsehen – nicht nur angesichts ihrer ungewöhnlichen Dimensionen und Lagen, sondern vor allem aufgrund ihrer Motive: Authentische Porträts von alten Menschen. Wer oder was steckt dahinter – eine Kampagne? Ein Künstler?

Manchmal fotografiere ich die zum Teil schon abbröckelnden Riesengesichter. Vor einem beklebten Haus in der Rosenthaler Straße stand neulich ein älterer Herr, der Ähnlichkeit mit der über ihm angebrachten Gesichtstapete hatte oder besser gesagt mit dem, was noch davon übrig war. Er stand dort schon seit längerer Zeit und studierte einen Stadtplan. Ich fragte ihn, ob er etwas mit dem Bild auf dem Haus zu tun habe. Er guckte nach oben zu dem Bild und lachte. „Nein, ich bin nur ein Tourist aus Portugal. Aber sie haben Recht, wir haben Ähnlichkeit: gleicher Schnurrbart und Frisur!“ Er gestattete mir, ihn zu fotografieren.


Um das Rätsel um die Bilder zu lüften, fragte ich Google: Mit Suchbegriffen wie „old faces“, „houses“ oder „art“ landete ich beim Projekt „Wrinkles of the City“ des französischen Steet-Art-Künstlers JR.
JR will das „Gedächtnis der Älteren und die von den Narben der Geschichte gezeichnete Architektur der Städte verbinden“, steht in der Projektbeschreibung. „Die Großväter und Großmütter sind die lebenden Zeugen von Städten, die sich schneller verändern, als sie altern. Jede ihrer Falten und jeder gelebte Tag ist aufgezeichnet in den Gebäuden, in den Straßen, in den Gesichtern dieser sich bewegenden Architekturen.“ „Wrinkles of the Cities“ Aktionen gibt bzw. gab es auf der ganzen Welt. In Shanghai, Los Angeles, Cartagena, Havanna und Berlin. Die Werke sind vergänglich, entweder sie verwittern oder die Häuser werden abgerissen. Aber die Fotos davon bleiben.
JR wählt die Gebäude, die er bespielt bewusst aus und bezieht die Geschichte der Architektur in seine Kunst mit ein. Für Berlin wählte er unter anderem den Postbahnhof, das alte Bauamt an der Leipziger Straße, das Sohohouse und den Wasserturm an der Eastside Gallery aus. Die Fotos zeigen die so oft in Vergessenheit geratene ältere Generation, die Berlin in seinen vielen Veränderungen miterlebt und geprägt hat. Es sind authentische Altersbilder, ohne Effekthascherei oder Klischees. Und sie sind schön.
Der 1983 geborene Künstler JR zählt für viele zu den innovativsten Vertretern der internationalen Gegenwartskunst. In Deutschland wird er von der Galerie Henrik Springmann vertreten. 2011 wurde er mit dem renommierten TED Prize ausgezeichnet. Sein Wunsch ist es, „mit Kunst die Welt umzukrempeln“. Ein bisschen Kleber und Papier reichen dafür schon. Die Stadt sei eine Leinwand und wer die Stadt gestalte, ändere die Realität, sagt er. Mit „Wrinkles of the City“ will er Alte und Junge zusammenbringen. Bei mir und Vasco hat es wunderbar funktioniert.
(gk)



Links:
- In diesem Video wird eine Pasting-Aktion des Künstlers in Berlin gezeigt:
- Lesenswerter Artikel von Birgit Rieger über „Wrinkles of the City“ im Tagesspiegel.