Dem Alter ins Gesicht blicken

Katalog zur Wanderausstellung „Mit Hundert habe man noch Träume.“ Foto: © Karsten Thormaehlen

Wann hört ein Mensch auf schön zu sein oder kennt Schönheit tatsächlich kein Alter, wie uns die Dove-Kampagne mit Hochglanzfotos attraktiver Ladies über 45 glaubhaft versichert? Doch wer diese Damen trotz weißer Haarsträhnen und zarter Falten nicht schön findet, muss tatsächlich dem Jugendwahn verfallen sein. Die reifen Körper der Dove-Models sind straff und die Gesichtszüge ebenmäßig.

Was ist dagegen mit wirklich alten Menschen, die nicht mehr konsumieren und keine Marketing-Zielgruppe sind? Ist ihre Schönheit tatsächlich verwelkt? Wie prägen Darstellungen von ihnen das öffentliche Bild?

Mit dem demografischen Wandel rücken auch hochbetagte Menschen immer öfter in den Blickpunkt einer breiteren Öffentlichkeit. Hundertjährige werden gefeiert und bundesweit mit Fotoausstellungen gewürdigt. Den Veranstaltern geht es darum, die alten Menschen sichtbar zu machen und sie anlässlich der Ausstellungen aus ihrem Leben erzählen zu lassen, das zwei Weltkriege, Wiederaufbau, Teilung und Wiedervereinigung überdauert hat.

In der Wanderausstellung „Mit hundert hat man noch Träume“ liegt der Focus auf der noch vorhandenen geistigen und körperlichen Vitalität der „Jahrhundertmenschen“. Diese professionellen Porträtaufnahmen des Werbefotografen Karsten Thormaehlen sind ästhetisch und schön. Es sind großflächige Farbfotos, die durchaus nicht übermäßig retuschiert wurden und dennoch zeigen, dass es möglich ist, sehr alte Menschen nach geltenden Schönheitsmaßstäben – strahlende Augen, ein rot geschminkter Mund, ein zugewandter Blick – in Szene zu setzen. Die Berichterstattung zu dieser Ausstellung betont, dass man auch mit hundert noch rege und humorvoll sein und ein ansprechendes Äußeres haben kann. Die Bilder lassen den Betrachter neugierig werden auf das Geheimnis dieser Menschen, die so lebendig erscheinen. Auch der Titel der Ausstellung verheißt, dass für die porträtierten Hundertjährigen die Zeit noch nicht still steht. Diese Bilder machen es dem Betrachter leicht, dem Alter ins Gesicht zu blicken und sicherlich lässt sich daraus auch der dauerhafte Erfolg der Ausstellung erklären.

Eine etwas andere Perspektive nehmen die Arbeiten von Lothar Adler ein. Der Logopäde und frühere Reproduktionsfotograf porträtiert seit 1999 seine hundertjährigen Patienten in eindrucksvollen, gerahmten Schwarz-Weiß-Aufnahmen, die auf Anfrage in der Geriatrie des Berliner Wenckebach-Krankenhauses besichtigt werden können. Die Schönheit dieser Porträts liegt vor allem darin, dass sie unverstellt wirken und mit den deutlichen Spuren des Alters auch viel von der Persönlichkeit der porträtierten Menschen hindurch scheint. Auch unter ihnen wirken viele noch recht vital, manche haben sehr feine Gesichtszüge oder ein schönes Lächeln und einen offenen Blick.

Im Herbst 2011 wurde Adlers „Galerie der Hundertjährigen“ gemeinsam mit den Farbporträts von Karsten Thormaehlen und Aufnahmen der Dokumentarfilmerin Marion Schütt im Rathaus Schöneberg präsentiert. Der Titel dieser Sammelausstellung „Vielleicht bin ich ja ein Wunder“ verweist darauf, dass hier Menschen am Ende ihres Lebens stehen, die fast mit Erstaunen auf das zurückblicken, was hinter ihnen liegt. Sie verfügen über einen Erfahrungsreichtum, der mit vielen Zitaten aus ihrem Leben belegt wird.

Normalerweise teilt sich uns das hohe Alter in düsteren und beängstigenden Medienbildern mit. Fernsehbeiträge zur privaten Pflegeversicherung oder Zeitungsartikel zum Thema Altersdemenz zeigen Aufnahmen von langen Gängen im Pflegeheim mit Rollator schiebenden Senioren. Für die Schönheitsindustrie ist das hohe Alter nicht existent und in der Werbung soll der Alterungsprozess nach geltenden Schönheitsidealen so lange wie möglich mit allen kosmetischen Mitteln hinausgezögert werden. Dabei hängen strahlende Senior-Models zwischen 50 und 65 die Messlatte für konsumtaugliche Altersschönheit sehr hoch.

Mit der glaubhaften Darstellung und der Würdigung des Alters jenseits des Klischees werden in den Ausstellungen über die „Jahrhundertmenschen“ Gegenbilder erzeugt, die tatsächlich belegen, dass „wahre Schönheit kein Alter kennt“ und sich vor allem in einer positiven Einstellung zum Leben ausdrückt.
(cb)

 

 

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